WIRKLICHKEIT IM SCHAFSPELZ

von Michael Hübl

Vorwort zu Häkellust, May Hahn Verlag, München 2002
© 2002 Michael Hübl

Der Tisch der Kunst ist reich gedeckt mit Leckereien und Grausamkeiten. Auch bei Patricia Waller. In der sparsam eingerichteten Küche ihrer 60er-Jahre-Mietwohnung finden sich, sozusagen nach Marktlage, drall gewickelte Sushi-Happen, stocktrockene Pommes im Portionskarton, ein rosiger Schweinskopf mit Karotte im Maul, aber auch Einmachgläser, deren Inhalt nicht ganz dem Angebot von Supermärkten, Schnellrestaurants oder Landgaststätten entspricht: Augen mariniert wie Silberzwiebeln, Zahnprothesen eingelegt wie Artischocken oder Austernpilze. An der Wand hängen Rundsiebe. In den wirtschaftswunderlichen Zeiten der Nylonstrümpfe und Nierentische hat man sie gerne benutzt, um gekochten Reis in Form zu bringen – eine Cocktailkirsche obendrauf, und schon saß auf der weißen Sättigungsbeilage ein roter Farbtupfer, den, wer wollte, auch als neckisch- frivole Anspielung verstehen durfte. Patricia Waller scheint diesen Serviervorschlag aufgegriffen zu haben. Die Siebe an der Wand sind gefüllt. Wohl nicht mit Reis, und wenn, dann ist er eingefärbt, beige-bräunlich, eigentlich hautfarben, und die Kirschen sind auch keine Kirschen, sondern Brustwarzen. Selbstredend alles aus Wolle.

Was aussieht wie ein makabrer Wonder-Bra oder ein sonstiges grausames Büstenhaltermodell, lässt sich ohne weiteres als Anspielung auf die Kunstgeschichte deuten: Gelegentlich werden dort Brüste serviert. Sie liegen auf einem silbernen Tablett und verweisen auf die Leiden der Hlg. Agatha, die der Legende nach in Catania lebte, sich den sexuellen Avancen des Herrschers von Syrakus widersetzte, daraufhin in ein Bordell verschleppt, nachher eingekerkert und gefoltert wurde. Ihre Peiniger quälten sie mit brennenden Fackeln und schnitten ihre Brüste ab. In den sogenannten Agathenbroten, die der Märtyrerin in manchen Gegenden geweiht wurden, hat man sie symbolisch nachgebildet. Hier wird eine Speise, ähnlich wie die Hostie in der christlichen Eucharistie, zum Fingerzeig auf einen Akt skrupelloser Brutalität. Denn Speisen werden eingenommen, und das heißt: Die Botschaft, die ihnen beigemengt ist, wird über den Stoffwechsel gleichsam in den Körper eingeschrieben. Erinnerung wird biologisch verinnerlicht.

Essen ist ein existenzieller Vorgang. Wenn also Speisen mit Ereignissen in Verbindung gebracht werden, die erschreckend wirken oder ein Gefühl von Bedrohung auslösen, dann ist sofort ein Lebensnerv getroffen. Das Schaudern, Unbehagen und Entsetzen, das der Anblick verletzter und verstümmelter Wesen auslöst, korreliert dann mit der tief sitzenden Urangst vor dem Hungertod: Jedes Stück Brot ruft auch die Not ins Gedächtnis, die es bedeutet, wenn alle Speicher und Schubladen, Kammern und Kühlschränke leer bleiben. In diesem Spannungsfeld bewegt sich Patricia Waller. In ihrem Werk, das sich keineswegs auf gehäkelte Kulinaria beschränkt, gibt es ein gut bestücktes Arsenal an Marterwerkzeugen und tendenziell tödlichen Instrumenten: ellenlange Messer, Bomben, dazwischen allerlei Utensilien aus der Sado-Maso-Praxis. Aber die schwere Klinge ist von silbrigem Lurex umgarnt, der Sprengsatz erweist sich als Topflappen und die Fesseln, Peitschen, Masken oder Zwangsjacken, die offenbar zum Rüstzeug einer anständigen Domina gehören, sind bei Patricia Waller ebenfalls von einer wollenen Hülle ummantelt. Das zerstörerische Potenzial all dieser Gerätschaften ist entschärft, abgepuffert durch weiches, dichtmaschiges Gewebe. Umgekehrt verhält es sich bei den Wurstplatten und Tellergerichte, bei den Eisbechern und Cocktailhappen, die Waller liebevoll anrichtet: Die sehen zwar appetitlich aus, sind aber ungenießbar. Bereits die Vorstellung, Wollwürste oder Häkelknödel schlucken zu müssen, dürfte bei den meisten Menschen genügen, um Würgereize auszulösen.

Waller demonstriert Offensichtlichkeit. Mit akribischer Hingabe ans Detail räumt sie jeden Zweifel darüber aus, was jeweils gemeint ist. Die gestoßenen Pfefferkörner auf einem französischen Frischkäse werden genauso sorgfältig mit Nadel und Faden 'modelliert' wie die Liebesperlen auf einem Sahnehäubchen. Doch so eindeutig sich die Objekte von Patricia Waller identifizieren lassen, so vielfältig sind die Fragen, die sie aufwirft, so irritierend sind die Assoziationen, die sie hervorruft. Patricia Waller bringt scheinbar selbstverständliche Sachverhalte aus dem Gleichgewicht der Konvention, und es ist in diesem Zusammenhang symptomatisch, wo und wie sie begann, ihre künstlerische Methode auch auf Nahrungsmittel anzuwenden. Bei den Vorbereitungen zu einer Ausstellung, mit der Waller ihren Aufenthalt in der Cité Internationale des Arts, Paris resümieren wollte, befasste sie sich auch mit dem Ritual der Vernissage. Sie nahm an, dass – wie so oft – Sekt, Snacks und Smalltalk die Aufmerksamkeit des Publikums absorbieren und die Kunst in den Hintergrund treten lassen würden: eine hübsche Nebensache. Also machte sie es wie Zeuxis. Der griechische Maler, der etwa von 435 bis 390 v.Chr. in Athen tätig war, wurde besonders wegen seiner illusionistischen Fähigkeiten geschätzt. Einmal, so wird berichtet, habe er Weintrauben gemalt, die so täuschend echt aussahen, dass Vögel nach ihnen pickten. Waller nahm statt Pigment und Bindemittel Wolle, griff statt zum Pinsel zur Häkelnadel und rüstete sich für die Schlacht am kalten Büffet. Sie stellte jede Menge Häppchen her, garnierte sie mit Oliven, Gürkchen, Trüffeln oder – siehe Zeuxis – mit Trauben, richtete alles fachgerecht auf großen Platten an und servierte das opulente Arrangement zur Ausstellungseröffnung. Es kam, wie es kommen musste. Die Gäste steuerten die reich gedeckte Tafel an. Womöglich lief ihnen schon das Wasser im Munde zusammen, und dann: Kunst, nichts als Kunst.

Spontan würde man sagen: Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt, hat mit den Galeriebesuchern Schabernack getrieben. Tatsächlich hat Patricia Waller mit ihrem Pariser Arrangement nur die Verhältnisse zurechtgerückt. Sie spielte verkehrte Welt, um die Wahrnehmung des Publikums wieder auf das zu lenken, dessentwegen es eigentlich gekommen war. Das Beispiel kennzeichnet die Methode und die generelle Zielsetzung der Künstlerin. Waller ist Bildhauerin, aber sie meißelt keine Formen oder Figuren aus Steinblöcken heraus, modelliert nicht in Wachs oder Ton, gießt weder Gips noch Beton: Sie fertigt Hüllen. Dabei wendet sie zwei unterschiedliche Verfahren an. Das eine besteht darin, vorhandene Objekte zu ummanteln. So hat sie etwa ein Kinderfahrrad, das Teil einer Installation werden sollte, minutiös mit Silbergarn, sowie mit roter, schwarzer und weißer Wolle umhäkelt. Sie hat also das Erscheinungsbild des Gefährts wiederholt. Sie hat es verdoppelt, hat seine Bedeutung verstärkt oder zumindest bewahrt, so dass nun das Fahrrad von seiner eigenen Sicherheitskopie umgeben ist. Dieser Schutz allerdings wirkt absurd. Denn obwohl doch alles wolleweich ist, hat es hier offensichtlich einen Unfall mit einem Verletzten gegeben: Neben dem Rad liegt eine Figur, auch sie komplett umhäkelt. Sie stellt einen Jungen dar, der gestürzt ist. Unter dem Kopf: ein amöbenartig geformtes rotes Deckchen. Es gehört zur ironisch-hintersinnigen Vieldeutigkeit der Arbeiten Wallers, dass dieses Deckchen durchaus als Topflappen zu verwenden wäre. Gemeint ist aber Blut, eine Blutlache. So erklären sich auch die silberfarbene Stickerei um die Augen. Sie deuten die Tränen des verunglückten Kindes an.

Waller hat für sie das gleiche Material verwendet wie bei den Speichen, Naben oder Pedalen des Fahrrads. Das entspricht der Logik ihrer Arbeit. Ob Felge, Feuerlöscher oder Fertig-Ravioli: Patricia Waller macht bei der ästhetischen Anverwandlung von Realität keine Unterschiede. Sämtliche Objekte werden mit der gleichen textilen Struktur überzogen. Wäre diese glatt und geschmeidig, könnte man sie als zweite Haut oder als Film bezeichnen, der die Gegenstände überzieht. Tatsächlich aber bilden die gehäkelten Gewebe eine eigene Wirklichkeit, wobei eine Szene wie die mit dem verunglückten Jungen deutlich macht, dass es sich um die künstlich-künstlerische Wirklichkeit der Fiktion handelt. Insofern bestünde eine Analogie zum Spielfilm. Aber die Filme im Kino oder auf dem Bildschirm sind Lichtphänomene, die verschwinden, sobald der Strom abgeschaltet wird. Bei einem Teil der Arbeiten von Patricia Waller befindet sich jedoch hinter dem artifiziellen Äußeren ein realer Kern. Die Innenwelt ihrer Objekte ist die Außenwelt: Hinter dem sachgerecht und präzise gehäkelten Rad aus Garn verbirgt sich ein gebrauchsfertiges, 'echtes' Fahrrad aus Metall, Gummi und Kunststoff.

Waller präsentiert die Wirklichkeit im Schafspelz. Daraus folgt noch nicht, dass Hülle und Kern notwendig gleichzusetzen wären – sonst müsste im Innern des wollenen Unglücksknaben ein kleiner Mensch stecken; stattdessen findet sich nur eine alte Puppe. Bei dem zweiten Verfahren, das die Karlsruher Künstlerin anwendet, fehlt ohnehin das Original, auf das sich die Ummantelung beziehen könnte. Vielmehr stopft sie die gehäkelten Formen (die Hähnchen und Hummer, Roboter oder Raumschiffe) mit neutralem Füllmaterial aus. In beiden Fällen – ob mit realem Kern oder ohne – ist das Erkenntnisziel das gleiche. Patricia Waller unterzieht das Verhältnis zwischen der Realität und ihrer tagtäglich-gängigen Auslegungen einer kritischen Betrachtung. Sie befragt die kulturellen Standards und die semantischen Übereinkünfte, nach denen Dinge bezeichnet, kategorisiert, bewertet werden. Waller umhüllt die Dinge, um ihnen auf den Grund zu gehen, um das freizulegen, was im gewöhnlichen Umgang mit Bildern und Begriffen meist neben 'raus fällt und nicht wahrgenommen wird, weil man nichts Besonderes mehr daran findet, dass ein Stück Wurst ein Stück Wurst oder eine Steckdose eine Steckdose ist. An dieser vermeintlichen Übereinstimmung von Zeichen und Bezeichnetem setzt Waller die Häkelnadel an, verwandelt und verbandelt Wirklichkeit und Kunst, bis ihre vergessenen, verschütteten und unerlösten Bedeutungen an die Oberfläche kommen.

Das alles geht nicht ohne eine gehörige Portion Ironie ab. Sie dient als Transmitter, denn sie ist eine unverfängliche Mitteilungsform, die es leicht macht, auch das Schwierige, Ernste, Unnahbare in Frage zu stellen und auf seine Bedeutung hin zu überprüfen. Sogar die eigene Zunft nimmt Waller ins Visier: Den Hasen, den Joseph Beuys aus der Replik einer Zarenkrone goss, hat sie ebenso nachgehäkelt wie ein Bein von Robert Gober, eine Figurine von Stephan Balkenhol oder den „Rabbit“ von Jeff Koons – ein Stück, bei dem sie die Mimesis auf die Spitze treibt, denn schon Koons hat das Originalobjekt in seinem Sinne umgewandelt: 1986 ließ er einen aufblasbaren Plastikosterhasen – damals der letzte Schrei – in hochglanzpoliertem Edelstahl nachbilden, Waller hat das knallharte Neo-Pop-Obkjekt mit Häkelgarn aus Lurex wieder in eine Soft-Version überführt.

Mit diesen Arbeiten setzt sich Patricia Waller nicht zuletzt mit ihrer Rolle als Künstlerin auseinander. Sie greift den Umstand auf, dass manche Kunstwerke fast Kultstatus erlangen und rasch, kaum haben sie das Atelier verlassen, kanonisiert werden. Sie verweist auf die inhaltlichen Verkürzungen und Klischees, die an die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft und an seine Produkte geknüpft werden. Und sie bestimmt ihre Position in Bezug auf die Kunst und hinsichtlich der Stellung, der Intentionen und der Ausdrucksformen von Frauen in der Kunst. Waller hat das Häkeln als künstlerisches Medium gewählt, weil ihr dadurch materieller Aufwand erspart und größere Unabhängigkeit erhalten blieben: Häkeln kann man auch im Flugzeug oder in der Bahn. Mit diesem Schritt traf sie bereits eine grundsätzliche Aussage, nämlich: Ob etwas Kunst ist oder nicht, entscheidet sich weder an der Menge oder Kostbarkeit des Materials, noch am technischen Input. Zugleich stellt Waller über das Häkeln ein Thema zur Debatte, das ihm Rahmen der sogenannten „Gender Studies“ zu sehen ist. Sie widmen sich den Kulturpraktiken, Handlungsfeldern, sozialen Zuordnungen, wirtschaftlichen Bedingungen oder ideologischen Patterns, die aus den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern resultieren oder auf ihnen aufbauen. Bezogen auf den Umgang mit Wolle und Nadel geht es da um Rollenzuweisungen und um die Frage nach der künstlerischen Freiheit: Muss 'frau' als Bildhauerin befürchten, in die Handarbeitsecke gedrängt zu werden, wenn sie sich für eine angeblich typisch weibliche Tätigkeit entscheidet? Und wie sieht es aus, wenn sich dabei – wieder 'typisch Frau' – in der Küche umtut und sich ausgerechnet von Käseschnittchen oder Champignonragout inspirieren lässt? Patricia Waller hat diese Einwände in ihre Arbeit miteinbezogen, indem sie sich bewusst über sie hinwegsetzt. Immer neu, immer mit Witz, Ausdauer und analytischem Verstand befasst sie sich mit der Welt, umgarnt sie und nähert sich häkelnd den Punkten, an denen es hakt.